Frei-Raum Schaffen

Eines der größten Geschenke meiner Krebsdiagnose war die Notwendigkeit und das Recht, mir einen Freiraum zu verschaffen.

Ich, die mich verpflichtet fühlte, jede freie Minute zu nutzen, um an etwas – einem Vortrag, einem Artikel, an meiner Selbstverwirklichung oder an meinem geistigen und körperlichen Wohl –  zu arbeiten, musste mich plötzlich ganz und gar um mich kümmern. Termine bei Ärzten mussten vereinbart werden, ich musste mich auf die OP vorbereiten und dann während der Bestrahlung für gute Bedingungen sorgen, um die Nebenwirkungen gering zu halten.

Und plötzlich war es ganz selbstverständlich, Kliententermine abzusagen, mich nach der ersten Diagnose für 4 Monate ganz aus den beruflichen Verpflichtungen zurück zuziehen.

Die Welt rückte ab, und ich wurde zu ihrem/meinem Mittelpunkt.

Dann 4 Jahre später erhielt ich die 2. Diagnose. Wieder war ich in eine Lebensweise zurück gefallen, welche von Absolvieren, zur Verfügung stehen und Überforderung geprägt war. Die Nebenwirkungen der Bestrahlung waren jedoch von einer unerwarteten Massivität, sodass ein Weiterhasten  nicht mehr möglich war. Und hier im Zuge einer Meditation wurde ganz klar, dass ich die Praxis zuzusperren hatte. Glücklicherweise war mir dies, da ich finanziell abgesichert war, möglich.

Und ich spürte, wie sogleich Heilung stattfand.

Es folgten eineinhalb Jahre mit Frei-Raum in Hülle und Fülle. Nein, ich nahm mir auch nichts vor für diese Zeit, ich musste die Zeit nicht „sinnvoll nutzen“.

Ich riskierte den Frei-Raum des Lebens. Ich lebte in den Tag hinein, wusste am Morgen nicht, ob ich das Haus überhaupt verlassen würde heute, oder doch lieber einen Schlafsack für das Enkelkind stricken, OE1 hören, in der Küche sitzend verbringen wollte.

Oder ich traf mich mit einer Freundin im Kaffeehaus und als ich mich verabschiedete und auf die Straße trat, begegnete mir eine andere, mit der ich sogleich ins Kaffeehaus zurückkehrte, um eine weitere Stunde dort zu verbringen.

Mein Organismus, die organismische Resonanz wie Carl Rogers diese innere Bewertungsinstanz nennt, die weiß, was jetzt im Augenblick zu tun ist, führte Regie.

Ich fand statt.

Und  lebte auf.

In derartigen Extremerfahrungen, wie es eine Krebsdiagnose und die nachfolgenden Behandlungen sind, ist es oftmals leichter, sich selbst bedingungslos Gehör zu schenken. Viele an Krebs erkrankte Menschen haben in dieser Zeit den Mut, weil sie auch das Recht haben – „Jetzt wo Du Krebs hast….“- für ihre Bedürfnisse einzustehen und sich zum Mittelpunkt zu machen.

Ein wesentliches Bedürfnis war und ist für mich das terminlose Alleinsein. Der Tag-  nicht zurückgestaut auf eine Reihe von einzuhaltenden Terminen – dehnt sich in mich aus und schafft einen kreativen Raum, aus dem Ent-Faltung stattfinden kann.

Das Leben wird nicht mehr absolviert sondern gelebt.

Und oft sind es ganz einfache Bedürfnisse, die dann entdeckt werden: in Stille sein, in der Natur, die Bedürfnisse nach gesunder Nahrung, nach Bewegung, nach Einkehr, nach kreativem Ausdruck….

Bald jedoch nach der uns zugestandenen Zeit der Rekonvaleszenz beginnt es wieder zu wuchern –  die Außenwelt-  und der „Weltinnenraum“, wie Rilke diesen Bereich des „Offenen“, der „Unbetretbarkeit“ nennt, droht erneut verloren zu gehen.

Da ist es wichtig, sich zu entsinnen, was und wann es zu viel wird. Und das sind oft auch Dinge, Ereignisse, die mir grundsätzlich Freude bereiten, wie FreundInnen zu treffen, ein Seminar zu besuchen, auszugehen in ein Theater, in ein Kino…

Dann gilt es, den Mut zu haben, abzusagen, für mich einen Frei-Raum zu schaffen, mich von dem Getose des außen zurück zu ziehen in mich.

Immer wieder und wieder.

2 Gedanken zu “Frei-Raum Schaffen

  1. Manuela schreibt:

    Liebe Beatrix, was für ein schöner und wichtiger Artikel! Das Bedenkliche ist ja, dass es für diesen Freiraum offenbar bei vielen Menschen erst eine Diagnose braucht. Ob es Krebs ist oder Burnout oder etwas Anderes. Warum sind wir Menschen so? Wo haben wir unser Recht auf Frei-Raum verloren? Immer nur Leisten und Tun und niemals Sein….
    Vielleicht weißt Du darauf eine Antwort.
    Liebe Grüße
    Manu

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