Heute ist Muttertag, Der Erste ohne meine Mutter.
Irgendwie fehlt sie mir, meine Mutter. Eigenartig.
Dachte ich doch, dass ich bloß eine riesige Entlastung spüren werde und die jahrelange Bürde von meinen Schultern fällt.
Musste mich gestern nicht testen lassen, um sie im Heim zu besuchen, musste mir nicht überlegen, was sie freuen würde, und was nicht zu wertvoll ist, damit es eine Chance gibt, dass sie sich längere Zeit dran freuen kann – so Einiges ist nämlich leider verschwunden.
Werde keine Bauchschmerzen bei der Anfahrt in´s Heim haben, und keine Angst, wie ich sie heute antreffen werde.
Da gab es so einige Möglichkeiten:
- Beste Option: Meine Mutter freut sich wie ein Kind, strahlt über das ganze Gesicht, und teilt allen Umsitzenden mit, dass ich ihre Tochter bin, also die eine Tochter. Das wissen sie bereits, also diejenigen, die nicht nur mehr vor sich hinstarren, sondern die eine kurze Abwechslung begrüßen. Sogleich steht sie auf, auch wenn der Kaffee noch nicht ausgetrunken und der Kuchen nicht aufgegessen ist. Sie entschuldigt sich bei den Kolleginnen – so nennt sie ihre Leidensgenossinnen im Heim – und schon packt sie ihren Mercedes (den Rollator), um schnellen Schrittes wegzukommen. Dann sitzen wir im Kaffehaus – sehr nett – meistens will sie Alkohol, weil sie ja im Heim keinen bekomme, „Nein, Mama, Du kannst jeden Abend ein Glas Wein oder Bier haben, wenn Du magst, Du musst nicht nur Himbeerwasser trinken.“ Ah so, das wusste sie nicht. Ganz erstaunt schaut sie aus ihrem lieben Kindergesicht. Sie greift nach meiner Hand, das ist mir ein bisschen unangenehm, aber natürlich kann ich sie nicht sofort zurückziehen. Einmal sagt sie, nachdem sie sehr lange die Hand meines Mannes hält, entschuldigend, dass sie das bei mir auch tun würde, aber ich hätte sie ja leider weggezogen. Wenn ich daran denke, spüre ich einen Stich im Herzen. Sie trinkt nicht aus, das Sektglas steht vor ihr und wird warm. Dann, wenn ich mich nach einer guten Stunde ans Gehen mache, wird sie es schnell und mit großer Verkutzgefahr austrinken, wenn ich es nicht schon getan habe – halbheimlich – hat ja keinen Sinn, dass der hier verkommt. Das ist die gute Option.
- Option 2: Meine Mutter sitzt versunken in die „Heute“ Lektüre am Tisch, sie schweigt, wie auch sonst niemand spricht – trostlos ist das. Ich begrüße sie, diesmal kein Lächeln nur ein angefressenes „dass Du kommst“ – zwischen den Zeilen „endlich“, das sei unerträglich hier, keiner spricht ein Wort, furchtbar das alles. Das stimmt. Augenblicklich bekomme ich ein schlechtes Gewissen, hab ich sie doch ins Heim „gesteckt“. Je nach Wachheitsgrad kontere ich entweder sofort mit einer blöden Bemerkung oder ich bin milde gestimmt und das Blatt kann sich nochmal wenden. Wenn es gut ausgeht, gehen wir ins Kaffeehaus. Heute bestellt sie sich 3 große Eiskugeln – Vorsicht große Anpatzgefahr! Wir machen vielleicht ein paar von den Hausübungen, die meine Schwester für die Woche zusammengestellt hat und wahrscheinlich wird sie wieder sagen, „Heute weiß ich gar nichts.“ – flehentlich, dass ich ablassen soll mit meinen ehrgeizigem Unterfangen, sie geistig fit zu halten.
- Option 3: Meine Mama ist zu schwach, um aus dem Sessel aufzustehen, das alarmiert mich „Oh Gott, bald wird sie überhaupt nur mehr im Bett liegen, warum verdammt nochmal bekommt sie keine Physio, warum übt sie nicht selbständig, damit sie nicht abbaut.“ Wenn ich nicht an mich halte, erwecke ich sogleich die Physiotherapeutin in mir und rege an, dass sie gleich nochmal aufsteht und sich hinsetzt, um die Muskulatur zu trainieren. Im Nachhinein betrachtet sind all diese Initiativen irgendwie peinlich.
Beim letzten Besuch war sie in ihrem Zimmer, in einem bequemen Sessel, liebevoll in Decken gehüllt.
Und endlich fiel jeder Anspruch ab und ich konnte einfach mit ihr sein – Einatmen – Ausatmen, einander in die Augen sehen, halten und lieb haben.
Heute ist Muttertag.
Der Erste ohne meine Mutter.
Du fehlst mir, Mama, auch wenn ich glaube zu wissen, dass es für uns beide besser ist, dass Du da bist, wo Du jetzt bist.