Über das Müssen, Dürfen und Wollen

Teil 1 Das Müssen

„Du musst besser auf Dich schauen, Du musst Dich mehr lieben,  gesund essen, Sport betreiben, keinen Alkohol trinken, genügend Schlaf haben, alten Groll loslassen, verzeihen, in Frieden sein , Dich selbst verwirklichen, Dein Leben leben, wissen, was Du wirklich willst, positiv denken, Vertrauen haben, zuversichtlich sein, an die Heilung glauben….!“

All diese Sätze bekommen wir  – oft ungefragt – zu hören, wenn wir an Krebs erkrankt sind oder ihn verhindern wollen.

Die Welt ist voll von derartigen Ansichten, was gut und was schlecht ist, was krank macht und was gesund erhält oder heilt.

Ich bitte die Leser, sich die oben genannten Sätze einen Augenblick zu vergegenwärtigen und sie in ihrer Wirkung auf sich wahr zunehmen.

In mir kann ich bei all diesem Müssen eine Verengung spüren, ein ganzkörperliches Zusammenziehen, eine angsterfüllte Tönung, und gleichzeitig ein braves, artiges Erfüllen wollen, will ich doch gesund bleiben und einen Beitrag dazu leisten.

Ja das mach ich – 3 mal mindestens pro Woche Sport, wenig Kohlenhydrate, schon gar nicht das böse Weißmehl und den schlimmen Zucker, keinen Alkohol, am besten warm essen – das sagt die traditionell chinesische Medizin, und das klingt ja auch sehr logisch …

Ja das mach ich. Schon geht´s mir besser für einen Augenblick – bin ich doch mit diesen Gedanken an das Vorhaben in einer konfliktfreien Zone.

Ja das mach ich – nicht gleich jetzt sondern nach den Ferien, nach dem nächsten Geburtstagsfest, am 1. Jänner nächsten Jahres, oder beim nächsten abnehmenden Mond.

Der kluge, witzige Michael Musalek, Leiter des Anton Proksch Instituts in Kalksburg sagte einmal in einem Radiogespräch angefragt auf die weit verbreitete Praxis von Neujahrsvorsätzen: „Nehmen Sie sich nichts vor, was Sie sich vornehmen, wollen Sie nicht, sonst würden Sie es sogleich tun.“

Ja so ist das. Wenn ich mir etwas vornehme, dann lehne ich das, was ich jetzt tue, ab, weil es – so sagt man – schlecht ist. So ist es mittlerweile common sense, dass es ungünstig ist, am Abend Kohlenhydrate zu essen,  das Essen kann nicht mehr verdaut werden, und das ist schlecht ,und dick wird man auch.

Wenn wir diese Konzepte unreflektiert in uns rein lassen, in unseren Geist, dann erzeugen wir einen Konflikt, einen Konflikt zwischen einem gewohnheitsbedingten Bedürfnis z.B. sich am Abend  noch mit etwas Süßem oder mit Brot oder Nudeln zu verwöhnen und zu beruhigen einerseits und andererseits diesem – wissenschaftlich begründeten ? Konzept, das besagt, dass Kohlenhydrate essen schlecht ist.

Meiner Ansicht nach ist gerade dieser Konflikt das krankmachende, er erzeugt eine permanente Spannung, die sehr viel Energie in Anspruch nimmt und bis in die Zellen hineinwirkt.

Anders ist es, wenn ich diese Gesundheitsmaßnahmen, die durchaus ihre Berechtigung haben, ein-sehen kann – zutiefst verstehen kann, warum dies oder das sinnvoll ist. Dieses Verstehen kann einen Beitrag zur Veränderung meiner vielleicht tatsächlich ungesunden Gewohnheitsmuster leisten.

Auf dem Boden des Verstehens kann ein Annehmen stattfinden, das nicht von einem Müssen geprägt ist sondern von einem bewusstseinsmäßigen Bejahen. Diese tiefe Bejahung ist auf einer höheren Ebene jenseits der Dualität von Gut und Schlecht.

Es geschieht damit eine Öffnung für eine neue Erfahrung und das ist immer freudvoll.

Ja das mach ich. Gleich jetzt. Da freu ich mich drauf, Da kann ich endlich aus den alten Mustern, die mich träge und müde gemacht haben raus, kann mich erfrischen mit Neuem, Unbekannten und kann mich erfahren in einer nie gekannten Weise.

 

Diagnose Krebs – eine Heraus-Forderung für Angehörige und FreundInnen

 

Zumeist stehen nach einer Krebs-Diagnose die davon Betroffenen im Vordergrund, sie haben den Schock zu verarbeiten, die richtige Wahl zu treffen, und sie haben sich auch den teilweise hefigen Behandlung auszusetzen.

Doch auch für Angehörige und FreundInnen ist dies eine sehr schwierige Zeit – schwieriger vielleicht noch, weil sie nicht in mitten des Geschehens sind, das all ihre Kräfte bündelt und die Aufmerksamkeit fokussiert. Sie stehen außerhalb und sind oftmals auch unsicher, was ein guter hilfreicher Beitrag von ihrer Seite sein könnte. Im Eindruck des Leids und der Not des Nächsten fühlen sie bisweilen auch kein Recht, ihre Bedürfnisse einzubringen und ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Und oft sind sie mit nie gekannten Aspekten und Seiten eines wohlbekannten Menschen konfrontiert.

Eine Krebsdiagnose trifft einen Menschen im Kern, er ist grundsätzlich erschüttert. Diese Erschütterung bringt Seiten an der Persönlichkeit zum Vorschein, welche wir als die Nächsten vielleicht noch nie wahrgenommen haben. Vor der Diagnose war unser Freund beispielsweise ein umgänglicher, verbindlicher Mensch, bei welchem wir nichts zu befürchten hatten. Plötzlich ist dieser so freundliche Mensch unwirsch, schroff, in sich zurückgezogen, weist uns zurück, schickt uns weg, will uns gar nicht sehen, er, der immer höflich und mitfühlend und im Kontakt mit den Bedürfnissen der anderen war, stößt uns mit einem schroffen Nein zurück und sagt beispielsweise den lange ausgemachten Besuch kurzfristig ab. Das ist hart und verunsichert. Wir verlieren die Selbstverständlichkeit, wissen nicht mehr, wie wir uns verhalten sollen, wir werden immer verklemmter und sprachloser.

Auch wir haben Bedürfnisse, wollen nahe sein, unterstützen, am Laufenden gehalten werden, wollen teilhaben. Und müssen schmerzlich bemerken, wie wir zunehmend den Kontakt verlieren.

Ich erinnere mich an meine liebe Freundin Gundi, welche mich bat, sie in ihrem Sterbeprozess zu begleiten und ich fühlte mich geehrt, war beglückt von diesem intimen Herzensgeschenk. Und dann, in ihrem Ringen um ein Sterben-Können war sie so gar nicht mehr meine Gundi, ich musste stundenlang in der Küche warten, ehe mir die Pflegerin mitteilte, dass sie mich heute doch nicht sehen möchte.  Das tat weh. Je mehr sie sich dem Tod näherte, desto ungehaltener im wahrsten Sinne des Wortes wurde sie, mal sollte ich leise, mal ganz normal sprechen. Meine Verunsicherung wuchs und damit mein Halt, den ich in mir hatte, und den ich ihr geben hätte können.

Was können wir tun: Ich glaube, das Wichtigste ist anzuerkennen, wie groß mein Schmerz ist, den anderen als meinen …..zu verlieren, die Trauer, meine Angst aber auch meine Wut, so behandelt zu werden, das Gefühl, dass ich so eine Behandlung nicht verdient habe – all das will angenommen werden oder wie Thich Nhat Hanh sagt, mich in all dem liebevoll zu umarmen und zu halten.

Und dann kann ich schauen, welcher Ausdruck stimmt, was ich davon wie mitteilen möchte, aus meinem Herzen heraus zu sprechen.

Vielleicht hilft es auch zu verstehen, dass meine Freundin es mit einem überwältigenden Geschehen zu tun hat, das all ihre Kräfte beansprucht, und dass das nicht gegen mich gerichtet ist. Und vielleicht ist es dann ja möglich, ihr/ihm den Raum zu geben, den er/sie braucht.

Einfach zu bleiben  – als eine vielleicht letzte Liebestat.

 

 

 

Mit dem Krebs tanzen….(Kurzversion)

„Ich tanze mit der Angst, ich tanze mit der Freude“ heißt das Buch von Karoline Erdmann.

Das Buch ist unscheinbar, wäre da nicht diese Frau am Cover, welche die linke Burstseite entblößt mit einer Rose verziert einen Tango tanzt. Es hat mich tief berührt, weil es so viel beschreibt, was ich im Umgang mit Krebs als wesentlich erachte – die Genauigkeit mit den (inneren und äußeren) Fakten, mit den eigenen Gefühlen und der inneren Stimme, der Mut, Tabus zu brechen und sich beispielsweise kein Brustimplantat einsetzen zu lassen und im Gegenteil die brustlose Seite beim Tangotanzen zu offenbaren.

Vor allem ist es ein Aspekt, welcher mir wertvoll erscheint und welcher mit meiner Auffassung über die „Aufgabe“ der Krebserkrankung übereinstimmt  – die Krebserkrankung als einen Bewusstseinsweg zu beschreiten.

Karoline Erdmann tut das nicht in einer realitätsfernen abgehobenen Weise, nein sie zeigt, dass es um die Anerkennung aller am Weg liegenden (oft schmerzlichen) Tatsachen geht.

Das letzte Kapitel in diesem wunderbaren Buch trägt den Titel „Ich tanze mit dem Leben und ich tanze mit dem Tod“. Es ist derart essentiell für mich, dass ich es am liebsten Wort für Wort wiedergeben würde.

Es geht darin neuerlich um die Dankbarkeit dem Krebs gegenüber – „Ich begann zu fühlen, dass der Krebs fast ein Privileg war, wie ein Erlebnis, das mich viele Schritte in meiner Entwicklung vorangebracht hatte. Durch ihn begegnete ich dem Leben mit einer anderen Hingabe, einer anderen Freude, einem anderen Bewusstsein.“ ….“Durch den Krebs habe ich mich mit dem Tod auseinandergesetzt. Der Tod ist dadurch für mich zu einem Freund und Begleiter geworden, der mir das Leben bewusster und lebenswerter macht.“  Mehr noch „In meinem Leben mit Krebs kann ich die Krankheit als eine Herausforderung, annehmen, als einen Entwicklungsschritt oder als eine Gnade. Eine Gnade, weil sie mir die Chance gibt, vieles zu erleben und zu verarbeiten, was mir sonst verschlossen geblieben wäre.“ und weiter „Es war der Krebs selbst, durch den ich das erste Mal meine tiefe Verbundenheit zum Diesseits spürte und realisierte, dass ich die letzen fünfundzwanzig Jahre mit meinem spirituellen „Streben“ oft auf der Flucht vor dem Leben gewesen war. Ich hatte mich nach dem Jenseits“ gesehnt und war am „Hier und Jetzt“ manchmal vorbeigelaufen.“ S. 155

Sie entdeckt neben der kausalen, horizontalen die vertikale Ebene in ihrer Verbindung zu Gott. „diese beiden Ebenen schneiden sich und ich muss lernen, in ihrem Schnittpunkt zu leben, d.h., ich muss lernen, dieses Kreuz, diese Spannung auszuhalten.“

In diesem angehobenen Bewusstseinszustand kann sie erkennen, dass das ganze Leben ein Tanz ist und jeder Mensch seinen eigenen Tanz tanzt. „Ich sehe, wie sich die Reigen der Menschen berühren, ineinander verschlingen und sich wieder lösen, ein unendliches wundersames Muster, in steter Bewegung, in steter Veränderung. Und wenn ich dieses Muster betrachte, aus immer weiterer Ferne, dann sehe ich auch den Tanz des Diesseits mit dem Jenseits. Ich sehe, unser Leben ist nur ein Leben von vielen Leben, ein kurzer Tanz, ein winziger Schritt im unendlichen Tanz der Ewigkeit.“

Karoline Erdmann ist Anfang 2006 gestorben. Üblicherweise würde man sagen, dass sie dem Krebs erlegen ist, den Kampf gegen ihn verloren hat. Ihr Buch hat mir jedoch erneut gezeigt, dass es vielleicht gar nicht darum geht, am Leben zu bleiben – möglichst lange.

Und auch wenn der Tod eines Menschen auf der menschlichen Ebene traurig und schmerzlich ist, so ist es vielleicht noch wesentlicher, einen Bewusstseinsweg zu gehen, so wie sie ihn gegangen ist.

Und ich würde mir wünschen, dass sie (und auch ich) diese letzten Schritte auf ihrem Weg mit jener von ihr beschriebenen Überzeugung gehen konnte. „In mir ruht die tiefe Überzeugung, dass alles gut ist, so wie es ist, und ich begegne dem Leben mit mehr Demut. Ich nehme an, was mir gegeben ist. Der Krebs ist weder eine Strafe, noch ist er ein Ansporn noch mehr zu meditieren oder stärker zu glauben, sondern er ist in sich selbst mein Ja zum Leben, mein Ja zur Existenz und ich kann mein Leben mit Krebs lieben. …Ich will keinen „Kuhhandel“ mit Gott, ich will keine Bedingung mehr stellen. Das ist eine wunderschöne Erkenntnis, eine bedingungslose Liebe zum Leben.“  

Mit dem Krebs tanzen….

„Ich tanze mit der Angst, ich tanze mit der Freude“ heißt das Buch von Karoline Erdmann.

Das Buch ist unscheinbar, wäre da nicht diese Frau am Cover, welche die linke Burstseite entblößt, mit einer Rose verziert, einen Tango tanzt. Es hat mich tief berührt, weil es so vieles beschreibt, was ich im Umgang mit Krebs als wesentlich erachte – die Genauigkeit mit den (inneren und äußeren) Fakten, mit den eigenen Gefühlen und der inneren Stimme, der Mut, Tabus zu brechen und sich beispielsweise kein Brustimplantat einsetzen zu lassen und im Gegenteil die bloße Seite beim Tangotanzen zu offenbaren.

Vor allem ist es ein Aspekt, welcher mir wertvoll erscheint und welcher mit meiner Auffassung über die „Aufgabe“ der Krebserkrankung übereinstimmt  – die Krebserkrankung als einen Bewusstseinsweg zu beschreiten.

Karoline Erdmann tut das nicht in einer realitätsfernen abgehobenen Weise, nein, sie zeigt, dass es um die Anerkennung aller am Weg liegenden (oft schmerzlichen) Tatsachen geht.

Das beginnt bei der Würdigung der Todesangst bei der Diagnosestellung und dem Entschluss, die Krebserkrankung als Herausforderung für einen „konstruktiven Umgang“, wie sie sagt, zu nehmen. Sodann eine Therapiewahl zu treffen, die auf einer tiefen Erkenntnis beruht, – einem organismischen Ja zur Ablatio und die nicht aus „blinder Angst“ getroffen. wird. Sie schreibt: „Der allgemeine „Krebsterror“ um mich herum suchte Lösungen durch immer raffiniertere Mittel. Aber mir schien, die eigentliche Lösung lag in mir selber. …Wenn es nun gelang, gleichzeitig auch innerlich Frieden mit meiner Situation zu schließen, dann würde ich wissen, welche Behandlungsmethoden für mich im Moment, die richtigen waren.“ (S. 101)

Auch der Abschied von ihrer Brust wird bewusst vollzogen, sie lädt dazu einen Freund ein, der sie ein letztes Mal mit beiden Brüsten fotografiert.

Sie beschreibt die Zeit im Krankenhaus wie ein Wochenbett, – mit dem Bedürfnis nach Stille und Rückzug und dem Gefühl von großer Verbundenheit mit „dem Leben, mit Gott und einem inneren Frieden“. Und „alles ist intensiver – die Sonnenstrahlen hinter den Wolken, die Farben, die Gerüche, die Geräusche – alles konnte mich begeistern.“

Immer wieder ist sie mit allem in Frieden, nimmt die Verletzung ihrer rechten Seite zum Anlass, sich zärtlich um ihren Körper wie um ein gekränktes Kind zu kümmern.

Entschieden lehnt sie nach einer Zeit der Unruhe, Angst und Verzweiflung eine Chemotherapie ab. Auch das nach Einbeziehung aller Informationen und einer tiefen Erkundung, was die Chemotherapie neben der Vernichtung von Krebszellen noch alles bewirkt – und in Resonanz mit der eigenen inneren Stimme. Und siehe da, kein Infragestellen von anderen, vielmehr ein Begrüßen dieser Entscheidung – so ist es, wenn eine Entscheidung fest auf einem organismischen Fundament steht.

Karoline Erdmann spricht aber auch über ihre Todessehnsucht. Mutig beschreibt sie, wie erlösend es ist, dieses „Endlich darfst Du sterben“ anzuerkennen. Genauer betrachtet geht es dabei mehr um eine Er-Lebens-Sehnsucht, um die Sehnsucht nach einem Eins-Sein- mit allem.

Zurück im Alltag leistet sie viel Ordnungsarbeit, mistet aus, was nicht mehr zu ihrem Leben gehört und widmet sich auch der Ursachensuche, dem, was sie belastet und hemmt.

Sie beschreibt, was ich von so vielen Krebskranken Menschen gehört habe, dass die Zeit um die Diagnose und danach zwar herausfordernd ist, die Konfrontation mit der Alltagsrealität, mit den eingespielten Mustern jedoch überfordernd sein kann. Schnell ist sie wieder derart erschöpft, dass sie nur mehr weinen kann. Sie sucht therapeutische Hilfe und nützt diese als eine Unterstützung in der Befreiung von Altlasten und von zehrenden Schuldgefühlen, was sie wohl alles falsch gemacht hat, „um solche eine schreckliche Krankheit zu bekommen.“ Sie kann erkennen, dass dahinter eine tiefer liegende Schuld verborgen ist, die gegenüber der eigenen intensiven Sexualität, welche von früh an verpönt war. Auch das Verlassenwerden von ihrem „griechischen Gott“, mag zu ihrer Erkrankung beigetragen haben. Letztlich kann sie anerkennen, dass es wohl viele Ursachen sind, die dazu geführt haben dass sie an Krebs erkrankt. Und sie erkennt, dass sie schlicht und einfach Erholung braucht. Auch dies ist mir von vielen an Krebs Erkrankten sehr bekannt. Vor allem bemerkt sie, dass die Phantasie (über den Krebs und die Folgen) das Schreckliche ist, nicht so sehr die Realität und auch, wie sehr diese Phantasien die Angst nähren und umgekehrt.

Sie kann der Menopause, in welche sie durch das Tamoxifen gerät, viel Positives abgewinnen, dass sie langsamer wird, das präzise Gedächtnis nachlässt und auch dass das begehrende Wollen abnimmt, kann sie begrüßen. „Wenn ich mich nicht gegen diesen neuen Zustand wehrte, sondern ihn einfach akzeptierte, musste ich zugeben, dass mein Leben dadurch viel friedlicher geworden war.“ (S. 109)

So ist der Bericht ihres Krankheitsweges durchtönt von  einer grundsätzlichen Öffnung für alle Möglichkeiten und für die Erfahrungen, die sie damit macht. Und es zeigt sich für mich, dass wie in vielen spirituellen Traditionen beschrieben die bedingungslose Bejahung der Erfahrung zu Frieden führt.

Auch ist sie, wie viele andere an Krebs erkrankte Menschen, ihrem Krebs dankbar, weil durch ihn „jeder Augenblick kostbar wurde“ und sie „sich frei fühlte, zu tun, was ich wirklich wollte“. Und das war unter anderem Tangotanzen. Durch den Tanz und ihre Auftritte mit einer entblößten brustlosen mit Blumen verzierten Brust gelang es, diese in ihrer Schönheit wahrzunehmen.

Und als dann nach einem Jahr neuerlich Krebs festgestellt wird – diesmal in den Lymphknoten -durchdringt sie auch dieses Geschehen nach einer Phase des Schocks und der Angst mit ihrem Bewusstsein und erkennt, dass es darum geht, dem Krebs nicht feindlich gegenüber zu stehen, vielmehr noch, dass das Unkontrollierbare, das ihm innewohnt zum Leben dazu gehört.

Neuerlich lehnt sie die Chemotherapie ab und entscheidet sich für hoch dosierte Misteltherapie in Kombination mit Hyperthermie und der Einnahme von Enzymen. Diese aus dem Inneren getroffene Entscheidung beruhigt und lässt sie ihre Mitte wieder finden. „Es ging darum, an meinen Weg zu glauben und mit meinem Schicksal glücklich zu sein. Ich hatte inzwischen innerlich zu der „Unsicherheit mit Krebs zu leben“, ja gesagt. ich versuchte nicht mehr aus dem Druck meiner Angst heraus eine mögliche nächste aktive Phase von Krebs zu verhindern, sondern ich lernte aus Freude am Leben und mit Neugier nach neuen Behandlungsmethoden zu suchen, um so gut und gesund wie möglich zu leben.( S 136/137).

Sie kann endlich ihre „unermessliche“ Wut wahrnehmen und ihr gemäß handeln, indem sie z.B. all die Porträtphotos ihres geliebten griechischen Gottes vernichtet.

Ihre neu erwachte Kraft mündet in ein Projekt, das sie „Mammatango“ nennt, wo sie mit entblößter Brust auftritt und damit auch andere Frauen ermutigt, zu sich und ihrem Schicksal zu stehen und zu sehen, dass Schönheit nicht an Konventionen  gebunden sind.

Das letzte Kapitel in diesem wunderbaren Buch trägt den Titel „Ich tanze mit dem Leben und ich tanze mit dem Tod“. Es ist derart essentiell für mich, dass ich es am liebsten Wort für Wort wiedergeben würde.

Es geht darin neuerlich um die Dankbarkeit dem Krebs gegenüber – „Ich begann zu fühlen, dass der Krebs fast ein Privileg war, wie ein Erlebnis, das mich viele Schritte in meiner Entwicklung vorangebracht hatte. Durch ihn begegnete ich dem Leben mit einer anderen Hingabe, einer anderen Freude, einem anderen Bewusstsein.“ ….“Durch den Krebs habe ich mich mit dem Tod auseinandergesetzt. Der Tod ist dadurch für mich zu einem Freund und Begleiter geworden, der mir das Leben bewusster und lebenswerter macht.“ (S. 152)  Mehr noch „In meinem Leben mit Krebs kann ich die Krankheit als eine Herausforderung, annehmen, als einen Entwicklungschritt oder als eine Gnade. Eine Gnade, weil sie mir die Chance gibt, vieles zu erleben und zu verarbeiten, was mir sonst verschlossen geblieben wäre.“ und weiter „Es war der Krebs selbst, durch den ich das erste Mal meine tiefe Verbundenheit zum Diesseits spürte und realisierte, dass ich die letzen fünfundzwanzig Jahre mit meinem spirituellen „Streben“ oft auf der Flucht vor dem Leben gewesen war. Ich hatte mich nach dem Jenseits“ gesehnt und war am „Hier und Jetzt“ manchmal vorbeigelaufen.“ S. 155

Sie entdeckt neben der kausalen, horizontalen die vertikale Ebene in ihrer Verbindung zu Gott. „diese beiden Ebenen schneiden sich und ich muss lernen, in ihrem Schnittpunkt zu leben, d.h., ich muss lernen, dieses Kreuz, diese Spannung auszuhalten.“

In diesem angehobenen Bewusstseinszustand kann sie erkennen, dass das ganze Leben ein Tanz ist und jeder Mensch seinen eigenen Tanz tanzt. „Ich sehe, wie sich die Reigen der Menschen berühren, ineinander verschlingen und sich wieder lösen, ein unendliches wundersames Muster, in steter Bewegung, in steter Veränderung. Und wenn ich dieses Muster betrachte, aus immer weiterer Ferne, dann sehe ich auch den Tanz des Diesseits mit dem Jenseits. Ich sehe, unser Leben ist nur ein Leben von vielen Leben, ein kurzer Tanz, ein winziger Schritt im unendlichen Tanz der Ewigkeit.“ (S. 157)

Karoline Erdmann – so musste ich lesen – ist Anfang 2006 gestorben. Üblicherweise würde man sagen, dass sie dem Krebs erlegen ist, den Kampf verloren hat. Ihr Buch hat mir jedoch erneut gezeigt, dass es vielleicht gar nicht darum geht, am Leben zu bleiben – möglichst lange. Natürlich ist es auf der menschlichen Ebene traurig und schmerzlich, aber vielleicht ist es wesentlicher, einen Bewusstseinsweg zu gehen, so wie sie ihn gegangen ist.

Ich wünschte, dass sie (und auch ich) diese letzten Schritte auf ihrem Weg mit jener von ihr beschriebenen Überzeugung gehen konnte. „In mir ruht die tiefe Überzeugung, dass alles gut ist, so wie es ist, und ich begegne dem Leben mit mehr Demut. Ich nehme an, was mir gegeben ist. Der Krebs ist weder eine Strafe, noch ist er ein Ansporn noch mehr zu meditieren oder stärker zu glauben, sondern er ist in sich selbst mein Ja zum Leben, mein Ja zur Existenz und ich kann mein Leben mit Krebs lieben. …Ich will keinen „Kuhhandel“ mit Gott, ich will keine Bedingung mehr stellen. Das ist eine wunderschöne Erkenntnis, eine bedingungslose Liebe zum Leben.“