In der Regel ist eine Krebsdiagnose ein großer Schock. Teilweise aus heiterem Himmel z.B. bei einer Routineuntersuchung festgestellt, sind wir von einem Augenblick zum anderen plötzlich – laut Befund! – schwer krank.
Das Schock- und Traumatisierungspotential ist dabei oft undifferenziert (das heißt, auch wenn der Krebs in einem sehr frühen Stadium entdeckt wurde), und ist zu einem (großen?) Teil einfach mit dem Wort „Krebs“ verbunden.
Krebs ist – obwohl Großteils mittlerweilen eine chronische Erkrankung – in unserem Bewusstsein mit großem Leid und einem (raschen) Tod verknüpft. Viele Krebspatientinnen beschreiben in diesem Sinne ihre Diagnose als Todesurteil.
Der zweite Faktor, der für eine posttraumatische Belastungsstörung nach einer Krebsdiagnose verantwortlich ist, ist die Art der Diagnosemitteilung, die leider nur allzu oft unempathisch und kontaktlos verläuft.
So hat der diagnostizierende Arzt einer meiner Klientinnen, nach der Diagnosemitteilung angefügt: „Ich sag´ Ihnen gleich, das kommt wieder!“ Diese Reaktion fußt meiner Interpretation nach auf einer Unbewusstheit und Abwehr der Empfindungen, die dieser Arzt im Moment der Diagnose hatte. Bei der Klientin handelte es sich um eine junge, sehr sympathische Frau. Ich kann mir vorstellen, dass es ihm, der sich sodann zu einem sehr gefühlvollen ärztlichen Begleiter entwickelte (er hüpfte am Spitalsgang vor Freude, als festgestellt wurde, dass die Chemotherapie eine gute Wirkung zeigte), einfach sehr nahe ging, dass diese junge Frau, der statistischen Realität gemäß, nicht mehr lange zu leben hat.
Ich stimme mit Fischer-Riedesser, dem Autor eines Traumafachbuches überein, dass es von Überlebens wichtiger Bedeutung wäre, dass Ärzte und medizinisches Personal über traumaspezifisches Wissen verfügen, damit die Gefahr einer Traumareaktion aufgrund einer Diagnose gering bleibt.
Es ginge also darum, dass jemand von Anfang an, also bereits rund um die Diagnose gut aufgehoben ist.
Ich habe in diesem Sinne Elemente einer traumasensiblen Diagnosestellung herausgearbeitet. Diese Aspekte mögen selbstverständlich klingen, sind es jedoch erfahrungsgemäß leider nicht, weshalb ich sie explizit ins Bewusstsein rücken möchte.
– Ein angemessener Ort: Die Diagnosestellung, die ja heftige emotionale und auch körperliche Reaktionen auslösen kann, sollte an einem angemessenen Ort stattfinden, nicht im Nebenbei am Krankenbett mit anderen Anwesenden, ohne Intimität und der Möglichkeit zu reagieren. Sie sollte in einem ruhigen Raum stattfinden, in dem man auch ungestört ist und nicht immer wieder die Tür aufgeht, weil jemand etwas braucht.
In dem Raum sollte es still sein, weil man – so der Polyvagaltheoretiker Stephen Porges – in einer derart emotionalen Stressreaktion hypersensibel auf Hintergrundgeräusche ist. Wir aktivieren nämlich in einer Bedrohungssituation, als welche eine Krebsdiagnose zumeist wahrgenommen wird, einen phylogentisch alten Überlebensmechanismus, indem wir alle Sinne schärfen, um eine aus dem Hinterhalt lauernde Gefahr abwenden zu können. Dieses Abwehrmuster hat zudem zur Folge, dass die menschliche Stimme – also die des Arztes – schwerer aus den Hintergrundgeräuschen herausgefiltert werden kann. Damit wird die Mitteilung tatsächlich nicht gehört.
– Es ist günstig, eine Begleitperson mitzunehmen, die unterstützend ist und wahrnehmen kann, was die unmittelbar Betroffene nicht wahrnehmen kann. Das ist sehr wertvoll, weil diese Person verzerrte Wahrnehmungen des Gesagten danach korrigieren oder die Erinnerung vervollständigen kann. Zumeist sind es Angehörige, die begleiten, bisweilen sind diese jedoch zu betroffen und können daher eine zusätzliche Belastung darstellen, weshalb es gut ist, wenn die Betroffene sehr genau ist, wen sie wirklich als unterstützend empfindet.
– Genügend Zeit: Gerhard Weber (siehe Literaturempfehlungen auf dieser Seite), der als Onkologe jahrzehntelange Erfahrung in der Betreuung von Krebskranken hat, meint, dass Menschen nach der Diagnosemitteilung 7-8 Minuten in einer Starre verharren, wo sie nicht ansprechbar sind. Er wartet diese Minuten ab, um danach zu fragen, was in dieser Zeit vorgegangen ist. Das dient auch einer Reorientierung im Hier und Jetzt, weil Menschen durch einen Schock aus der gegenwärtigen Realität heraus kippen. Es wäre günstig zu vermitteln, dass der Arzt genügend Zeit hat, um auf drängende Fragen zu antworten bzw. auch, um den teilweise heftigen Reaktionen des Menschen Raum zu geben.
– Die Zugewandtheit des Arztes: Jeder Schock löst im Menschen eine Kaskade an physiologischen und auch emotionalen Reaktionen aus. Manche Menschen geraten in eine große (emotionale) Erregung, andere erstarren und hören die Worte wie aus weiter Ferne. Porges, der Begründer der Polyvagaltheorie, meint, dass die Präsenz, die Zugewandtheit, die Authentizität des Gegenübers (in diesem Fall des Arztes/der Ärztin) eminent wichtig ist, damit die oben beschriebenen Reaktionen gering bleiben. Mit der Präsenz des Gegenübers wird Sicherheit vermittelt, eine Sicherheit, die in den Eingeweiden spürbar ist – er nennt diese viszerale Sicherheit.
Was sind nun die Elemente dieser Präsenz:
Idealtypischerweise ist der Arzt mit sich selbst in Kontakt. Er ist mit sich in Fühlung, also kongruent, er kann seine eigenen Ängste und Bedrohungsgefühle wahrnehmen, kann diesen eine wertschätzende Beachtung schenken und sie sodann zur Seite stellen, um sich erneut dem Patienten zu öffnen.
Da wir über die Spiegelneuronen wahrnehmen, was sich eigentlich beim anderen Menschen vollzieht, sollte sich der Arzt um diese Kongruenz bemühen, also darum, dass er wahrnimmt, was sich in ihm innerlich vollzieht, ob er Angst, Sorge, Mitgefühl, eigene Betroffenheit wahrnimmt – das gibt im neurozeptiven Sinn Sicherheit, während Inkongruenz eine tiefe Verunsicherung hervorruft („Der Arzt wirkt zwar souverän, bemüht sich auch, mir zu vermitteln, dass kein Grund zur Sorge besteht, aber irgendwas in meinem Inneren – in meinem Bauch – sagt mir, dass das nicht stimmt“).
Der Arzt/die Ärztin ist authentisch. Er kann sich über die Mimik und die Stimme differenziert ausdrücken. Sie ist echt, es ist ihr möglich, die verschiedenen Facetten ihres Erlebens der gegenwärtigen Situation in angemessener Weise und in steter Zugewandtheit auszudrücken. Er verfügt über einen „warmherzigen Gesichtsausdruck, eine Offenheit signalisierende Körperhaltung sowie einen entsprechenden Klang der Stimme und stimmlichen Ausdruck“ meint Porges.
Um das zuvor erwähnte Beispiel nochmal heran zuziehen, könnte der Arzt meiner Klientin in dieser Situation sagen: „Es tut mir leid, Ihnen diese Diagnose mitteilen zu müssen. Das macht mich jetzt selbst sehr betroffen, ich möchte Ihnen aber auch versichern, dass wir alles tun werden, was in unseren Kräften steht, um Ihnen zu helfen.“
Ich möchte noch anfügen, dass es sichernd ist, wenn man die Patientin immer als ebenbürtige, erwachsene Partnerin behandelt (leider auch oft keine Selbstverständlichkeit), was bedeutet, dass sie über die ärztlichen Vorhaben gründlich aufgeklärt wird.
– Metakommunikation: Am Ende des Diagnoseerlebnisses wäre ein Anfragen des Patienten auf einer erwachsenen Ebene angebracht – was ist davon in Erinnerung geblieben, gibt es Fragen usw.
– Prognosen: Ich bin im Hinblick auf das Traumatisierungspotential gegen eine ungefragte Mitteilung von Prognosen. Während der Situation einer Krebsdiagnose sind wir in einer Art Trancezustand, in welchem sich bedrohliche Botschaften in unser Gehirn eingraben und teilweise noch Jahre danach als Gedankenschleifen in unserem Bewusstsein bleiben.
Falls danach gefragt wird, sind Prognosen zwar ehrlicherweise mitzuteilen, aber auch zu relativieren, z.B. mit dem Hinweis, dass die Statistik nichts über den Einzelnen aussagt, und man, wie Servan Schreiber (siehe dazu Buchtipps) im Hinblick auf seinen eigene Prognose meinte, nicht weiß, ob man nicht zu den 5% am rechten Rand der 5-Jahres Überlebenskurve gehört, was bei ihm ja der Fall war.
– Therapieindikationen wie OP, Strahlen-, Chemo- und Immuntherapie sind zwar kurz als Behandlungsoptionen zu beschreiben, um eine hilfreiche, Zuversichts – fördernde Orientierung zu geben, jedoch finde ich es äußerst ungünstig, wie leider auch oftmals der Fall, sofort den Patienten unter Druck setzend zu einer Entscheidung und Vereinbarung eines Behandlungsbeginns zu drängen. Untersuchungen haben gezeigt, dass, wie bei jeder anderen akuten Traumatisierung das Großhirn nur eingeschränkt funktioniert, daher also keine im wahrsten Sinne des Wortes vernünftige Entscheidung getroffen werden kann.
– Letztlich geht es um die Vermittlung von Halt und dem Gefühl von Gemeinsamkeit und Zuversicht. Es wäre gut, wenn der Arzt/die Ärztin vermittelt, dass er/sie da ist und den Gesundungsprozess auch begleiten würde, wenn gewünscht. Sie vermittelt in diesem Sinne Zuversicht und ein Gefühl von Verbundensein auf einer menschlichen Ebene.
Auf dieser Basis wird der Schock der Diagnose gemildert, beziehungsweise kann er sich, da wir ja alle mit starken Selbstheilungstendenzen ausgestattet sind, aus dem Organismus heraus lösen, und wir können sodann auf einer erwachsenen Ebene mit Umsicht und Klarheit die notwendigen Schritte unternehmen.