Und das ist sie in vielerlei Hinsicht – in ihrer Weisheit, die der einer älteren, lebenserfahrenen Frau gleicht, in ihrer Mädchenhaftigkeit, die mit kindlicher Stimme ein Glas Leitungswasser bestellt, in der Verbindung von weit auseinander liegenden Welten – der Wissenschaft, der Kunst, der Emotionalität und Nüchternheit…..
Vor nunmehr einem Jahr hat sie sich, inspiriert durch ein sehr freies Umfeld in Montreal, entschieden, keinen BH mehr zu tragen, und sich auch nicht mehr zu rasieren.
Wir könnten jetzt glauben, sie habe ohnedies nur eine kleine, nicht weiter auffällige Brust, aber nein, der Busen meiner Tochter ist nicht klein sondern deutlich sichtbar.
Und nein, sie verhüllt diesen nicht mit weiten dunklen Hängerchen, sie trägt enganliegende T-Shirts, die auch ihre Brustwarzen zu erkennen geben. T-Shirts, die ihre Brüste offenbaren.
Und nein, sie hält sich auch nichts schützend vor, wie ich es jahrzehntelang gemacht habe. Sie verschränkt nicht ihre Arme, auch wenn sie durch eine Menschen-Männer-Menge geht.
Damit habe ich es bisweilen schwer. Ich, die ich mich mit meinen Brüsten immer zu exponiert fühlte, sie weg haben wollte, weil sie Hauptangriffspunkt anonymen Begehrens waren, die mich zu- und eindringlichen Blicken aussetzten.
„Willst Dir keinen BH anziehen?“, sag ich dann, wenn uns ein Tag voller Ausgesetztseins bevorsteht. „Nein,“ sagt sie, „sind doch meine lieben Brüste, die ich nicht in einen BH zwängen will. Die gehören zu mir, wie zu jeder Frau dazu.“
Ich möchte mich vor sie stellen, wenn ich merke, dass die mit uns fahrenden Männer sie anstarren. Ich lasse es, unter Aufbietung aller Ein-Sicht, die ich in einer derartigen Situation aufbringen kann, und weil ich es toll finde, dass sich meine Scham über die offenkundigen Zeichen meiner Weiblichkeit nicht in die nächste Generation tradiert hat.
Und weil ich es bewundernswert finde, dass meine Tochter frei ist, ein Zeichen zu setzen.
Und sie – sie geht völlig unbeeindruckt munter vorbei, selbst-verständlich und selbst-vergessen, gibt es doch so viel Wichtigeres, was ihre Aufmerksamkeit anzieht.
Sie hat das Gefängnis der Selbst-Bezüglichkeit, dass das Leben so vieler Frauen (meiner Generation ?!) prägt, verlassen – dieser Selbstbezüglichkeit, sich ständig des eigenen Körpers bewusst zu sein, wie er aussieht, wo etwas zu viel oder zu wenig ist, wo etwas wackelt und hervorschaut, wo etwas Begierden hervorlocken könnte, was frau essen darf und vermeiden muss.
Die Burka des kritischen Selbst-Blicks.
Meine Tochter isst, wenn sie Hunger hat und das, wonach ihr Körper gerade verlangt.
Sie liebt ihren Körper in seinem So-Sein und sie achtet darauf, was für ihn gut ist.
Sie ist frei und mutig.
Dafür und für so vieles mehr liebe ich sie.