Gleich-Gültig

Seit ich meine neuerliche Krebs – Diagnose veröffentlicht habe, erhalte ich viel Zuspruch, Mitgefühl aber auch Bewunderung für meinen Mut und die Art, wie ich damit umgehe. Das berührt mich, ist wirklich wohltuend und ich bin dankbar dafür.

Andererseits ist die Krebsdiagnose – das mag jetzt komisch klingen –  noch nie das Schlimmste in meinem Leben gewesen.  Er ist ja auch kein wirklich böser (https://krebscoaching.org/2018/01/20/mein-krebs-ist-kein-boeser/).

Vielmehr bringt mich die Diagnose in meine Klarheit, in mein höheres Wissen, in meine Essenz und meine Kraft.

Ich kann es nicht mal Krankheit nennen, weil ich mich nicht krank fühle, und deshalb mich nicht als krank bezeichnen möchte. Ich habe bloß eine Krebs-Diagnose. Da ist was in meiner Brust – sehr umschrieben und nicht groß, aber rundherum bin ich gesund und fühle mich auch so.

Ich glaube, es könnte vielen Menschen Vieles erspart werden, wenn sie sich (auch!!) an das halten, wie sie sich fühlen.

So hat mir vor einiger Zeit eine Frau mit metastasierendem Brustkrebs gesagt, dass sie sich fortan nicht mehr von der Höhe der Tumormarker beeindrucken lassen will und auch nicht von der doch sehr drastischen Diagnose.

Sie misst ihre Gesundheit an ihrem Befinden, ihrer Energie und daran gemessen, erscheint sie mir gesünder als viele andere, die sich mit schweren Schritten und Atemlosigkeit die 2 Stock zu mir hinauf plagen.

Auch ist die Krebsdiagnose im Gegensatz zu anderen wie HIV, Hepatitis C, aber auch Colitis ulcerosa …. mittlerweile gesellschaftsfähig und anerkennungswürdig. Für eine Krebsdiagnose erfahren wir viel Verständnis, echtes Interesse und ganz konkrete Unterstützung

Für mich ist das ganz normale Leben oftmals viel schwieriger zu bewältigen als das geordnete Vorgehen, das meine Krebsdiagnose nach sich zieht.

Krebs ordnete mein Leben, und gibt bestimmte für mich bewältigbare Schritte vor – Ärzte kontaktieren, Untersuchungen, die Therapiewahl, dann die Therapie, die Berücksichtigung der Nebenwirkungen und die Behandlung der Konsequenzen.

All das ist für mich im wahrsten Sinne des Wortes überschaubar und damit auch machbar, auch wenn es teilweise unangenehm ist.

Aber (wie vor ein paar Tagen) einen den Strom in einer Wohnung einleiten lassen müssen, einen Energieanbieter wählen, die ganze Prozedur zunächst heraus finden – dass es zum Beispiel einen Unterschied zwischen Netzbetreiber und Anbieter gibt, dass man einen Zählpunkt angeben muss, und der nicht wie vermutet am Zählerkasten steht, dass ich mich da sowas von nicht auskenne, und mich in all dem Unwissen äußerst blöd fühle….

Dass sodann der Strom nicht in 8 bis höchstens 24 Stunden angedreht wird, sondern erst in  zwei Wochen, dass ich das um 21 Uhr erfahre, wo ich natürlich niemanden mehr erreiche, um da gleich Gegenmaßnahmen einleiten zu können, da die zwei jugendlichen Menschen, die ab übermorgen drin leben werden, sicher nicht all die Tage in einer kalten Wohnung verbringen können….

Das ist es, was mich an den Rand der ohnmächtigen Verzweiflung bringt. Umso mehr, als es mich sehr beschämt, wie sehr mir das zusetzt, und was das mit mir macht.

Welch ein Problem? Da gibt es ja echt Ärgeres, Schlimmeres, wie zum Beispiel meine Krebsdiagnose.

Nein gibt es für mich (zu diesem Zeitpunkt) nicht.

Weil diese Dinge einfach alte Überforderungen in mir berühren, oder wie man in der traumtherapeutischen Diktion sagt, sie triggern mich. Und dann hänge ich Stunden im State – auch das ein Fachterminus aus der Traumatherapie – mit allem Drum und Dran.

So gibt es viele Beispiele von Belastungen, die nicht als solche gewürdigt werden, und die damit in den Bereich der Verschwiegenheit geraten:

Zum Beispiel über Jahre auf  Bewerbungen um einen Arbeitsplatz keine Antwort bekommen, depressiv sein, vor allem und jedem Angst zu haben, Zwänge (sehr tabuisiert !!), Panikattacken, Lustlosigkeit, Schamgefühle über das eigene Aussehen, das Süchtig Sein, oder noch größere „Kleinigkeiten“ wie zum Beispiel, dass ein geliebter Mensch nicht antwortet auf meine Nachricht, und ich mich Tage nicht beruhigen kann deshalb, oder wenn ich zum Beispiel ein Geheimnis verrate, und das nicht tun hätte dürfen, und damit lange umgehe, wie wenn ich eine Todsünde begangen hätte….

So ist alles relativ.

Und nichts ist so, wie es von außen erscheint.

Vielleicht müssten Menschen ja gar nicht so schwer krank werden – eine gewagte These (!) – , wenn wir uns selbst und denen, welche mit derartigen Nöten und „Kinkerlitzchen“, die für uns und diese Menschen gar keine sind, die selbe Beachtung schenken, das selbe Mitgefühl und wahrhaftige Interesse für das Leid und die Not entgegenbringen würden, wie wenn wir es mit einer allgemein anerkanntem Belastung wie Krebs zu tun hätten.

Das wäre wahrlich heilsam.

Dir zur Feier….

Zu meinen wesentlichsten Nahrungs-/Lebensmitteln zählen die Gedichte von Rainer Maria Rilke.

Heute möchte ich zwei davon meiner lieben Gundel zu ihrem 55. Geburtstag widmen.

Noch habe ich einen Hauch ihrer Stimme im Ohr, als wir damals im Jahre 2011 für die Lesung probten.

Sie saß in ihrem großen Sessel, wie auf einem Thron, eingehüllt in viele Decken und las mit ihrer unnachahmlichen, wohl tönenden Stimme Rilke.

„Uns zur Feier“ wollten wir die Lesung nennen. sie sollte an meinem Geburtstag stattfinden, an jenem Tag, an dem sie dann von uns ging.

So denke ich heute an Dich, liebe Gundel und schicke Dir Rilkes Worte.

Sicher bist Du ihm ja jetzt ganz nahe.

 

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:

Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.

Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.

Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.

Gieb mir die Hand.

 

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen:

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken

und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.

Die wissende Lücke….

Der folgende Artikel ist erstmals im  FocusingJournal (Nr. 24, S. 20-23, 2010) erschienen. Er ist die Zusammenschrift eines Vortrages im Rahmen einer Psychoonkologietagung

Die wissende Lücke.

Zur Weisheit des Organismus im Leben mit Krebs

von Beatrix Teichmann-Wirth

Es war vor einem Jahr, im September 2008[1], als ich einer Einladung folgte, im Rahmen eines Psychoonkologie-Kongresses einen Vortrag zu halten. Ich wählte den oben genannten Titel.

Mein Vortrag sollte am letzten Tag des Kongresses stattfinden. Ich hatte in den Tagen zuvor Gelegenheit zu erfahren, wie sehr auch die Psychoonkologie – bei aller Anreicherung durch Menschlichkeit – in naturwissenschaftlichem Denken befangen ist.

Referiert wurden Ergebnisse basierend auf Untersuchungen an vielen Menschen. Die Psychoonkologie stellte sich auf diesem Kongress als eine „third person science“ dar, wie Gendlin all jene Wissenschaften bezeichnet, in denen die Person, das Subjekt, herausfällt. Dabei habe ich, inspiriert durch die Lektüre des Buches „Focusing und Philosophie“ (Wiltschko, 2008) die „Person“ vermisst.

Es war eine große Herausforderung, mich als diese „Erste Person“, die selbst von der Diagnose Krebs zweimalig betroffen war, zu zeigen. Der vorliegende Beitrag ist eine Abschrift meines Vortrages. Über große Strecken habe ich den Wortlaut des Gesprochenen beibehalten, um der Lebendigkeit des Moments Rechnung zu tragen.

Heute morgen, als ich mich entschieden hatte, zu Hause zu bleiben, um mich noch auf meinen Vortrag vorzubereiten, erhielt ich eine SMS von Birgit Konteh, einer Freundin und Mitreferentin: „Deinem Thema gemäß musst du dich wohl ganz persönlich heute der ‚Lücke’ aussetzen, um wissend zu werden – eine Absicherung gibt es nicht…“

Das hat mich sehr berührt. Eigentlich wäre es ja wirklich konsequent, jetzt die Situation hier zu „beantworten“. Das bräuchte Mut – Mut mir meine Zeit zu nehmen, auch wenn sie die mir zugestandenen 20 Minuten überschreitet; Mut für gute Bedingungen zu sorgen, also beispielsweise die Sessel umzustellen und mich um einen guten Platz zu kümmern; es bräuchte Mut zur Blöße, mich nicht hinter meinen Konzepten und Vorstellungen zu verstecken. Es bräuchte Mut, zu verzichten – darauf zu verzichten, alles, was ich an Gescheitem vorbereitet habe, auch vorzubringen. Letztlich bräuchte es Mut, dem Prozess zu folgen.

Durch all das ist auch ein krebskranker Mensch herausgefordert – mit der Notwendigkeit, für sich zu sorgen, und dem Mut, für sich einzutreten und oftmals auch Tabus zu brechen, wenn man die engen Grenzen der Konvention sprengt.

Und zuallererst bräuchte es Vertrauen – Vertrauen, dass alles da ist.

Ja, das bräuchte es jetzt: mich dieser wissenden Lücke auszusetzen, es darauf ankommen zu lassen, was sich jetzt offenbaren will – und – ich fühle, dass ich mich das jetzt gar nicht so ganz traue in diesem Kreis der vielen klugen Menschen.

So will ich sanft-mütig sein, mir und dem Ganzen Genüge tun und das geben, was mir jetzt angemessen erscheint.

So will ich im Sinne des Vortragstitels die noch verbleibenden Wissenslücken nicht mit Inhalten „stopfen“, sondern die „wissende Lücke“ offenhalten und in der Öffnung eines Erfahrungsraumes die Möglichkeit geben, mit diesem Wissen, das hinter einem vermeintlichen Unwissen liegt, in Berührung zu kommen.

Ich möchte Sie also einladen, mir mit einem – ich nenne es – „Ganzkörperohr“ zuzuhören.

 

Von einem inneren Ort

Der Ort, von dem aus ich spreche, ist ein innerer Ort. Es ist ein Platz, an dem ich jetzt, nach 10 Jahren Leben mit Krebs, angekommen bin. Das, was ich sage, gründet auf intensiver Selbsterforschung in dieser Zeit. Ich sage es im Vertrauen darauf, dass, wie Carl Rogers sagte, das Persönlichste das Allgemeinste ist.

Ich spreche auch von einem Ort, der meiner Krebserkrankung sehr dankbar ist, weil sie mir ermöglicht hat, mich auf den Weg zu machen und herauszufinden, dass es ein Leben hinter dem Erfüllen von Ansprüchen und äußeren Bewertungen gibt, mein Leben neu auszurichten nach diesem unsicheren und doch so ganz sicheren inneren organismischem Wissen.

 

Zwei „Felt Shifts“ – zwei Entscheidungen

Der Ausgangspunkt meiner Erkenntnisse über das Vorhandensein eines umfassenderen Wissens waren zwei Erfahrungen im Zuge meines Krebs-Ganges: Die erste Diagnose war zunächst ein großer Schock, der massive Angst in mir auslöste. Zugleich bemerkte ich, dass mein Bewusstsein angehoben war, sich mein Blick weitete und ich plötzlich sehr klar wusste, was jetzt zu tun ist. Diese unerschütterliche Gewissheit war mir unerklärlich, aber sie sagte mir unmissverständlich: „Ja genau, das tue ich jetzt. Von diesem Chirurgen lasse ich mich operieren, zu diesem Zeitpunkt, in diesem Krankenhaus.“

Die zweite eindrückliche Erfahrung: Nach der zweiten Brustkrebsdiagnose und im Zuge der starken unvorhersehbaren Nebenwirkungen der Bestrahlung erkannte ich, diesmal während meiner täglichen Meditation und wieder zweifelsfrei, eindeutig, mit absoluter Gewissheit, dass es darum geht, meine psychotherapeutische Praxis zuzusperren – was ich dann auch für eineinhalb Jahre tat.

Beide Erkenntnisse waren körperlich stark spürbar, im Sinne einer Öffnung, einer Erdung, so wie ein Ruck nach unten durch den Körper. Eugene Gendlin, nennt das „felt shift“.

Es gibt also etwas, das mehr weiß als ich, und dieses Etwas äußert sich, wenn ich ihm Raum gebe, in spürbaren körperlichen Reaktionen.

 

Die zweifache Realität

Im Hinblick auf die Realität einer Krebsdiagnose sind zwei Aspekte bedeutsam:

Durch den Einbruch der Diagnose in die Lebensrealität, in das Festgefügte, das immer schon so Gewusste eröffnet sich eine Lücke, und durch diese Lücke scheint ein Bewusstseinslicht – wenn es gelingt, sie offenzuhalten, ihr Raum und Zeit zu geben und somit hinter die Angst, die Wut, die Verzweiflung, das Anklagen und Hadern zu gelangen.

Das ist die eine Realität: die Eröffnung eines nicht determinierten, freien, offenen Bewusstseinsfeldes.

Die zweite, ebenso wesentliche Realität ist die äußere: die Reaktionen der Angehörigen in ihrer verständlichen Angst und Sorge, aber auch die Zugangsweisen der Betreuer, der Ärzte, die die Diagnosen mitteilen, und all der Betreuungspersonen, die rund um die Diagnosestellung an den Patienten herantreten.

Da gibt es also eine Lücke, einen Einbruch in das Strukturgewordene durch die Diagnose, ein, wenn auch erschrecktes Erwachen. Und dann gibt es eine Maschinerie, einen Ablauf, der eigenen Gesetzen folgt und der aus sich heraus erklärt auch verständlich ist.

Der von einer Krebsdiagnose betroffene Patient wird mit einer Vielzahl von Informationen konfrontiert, er ist vielen für ihn unbekannten Situationen ausgesetzt, und dies alles oftmals unter großem Zeitdruck. „Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit!“, ist eine der wesentlichen Botschaften. Alles drängt, zwingt, verengt.

Was bewirkt das? Die Lücke, gerade geöffnet, schließt sich erneut, und der Mensch kommt im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr vor.

Beim Schreiben merke ich, wie ich mich eingeladen fühle zu werten: „Ja, aber das ist doch auch notwendig und das muss man ja von ärztlicher Seite auch so machen“. Das ist es gerade, was ich vermitteln möchte: dass es hier nicht um ein Entweder-Oder geht.

Was ich sagen möchte, ist: Da gibt es ein tieferes, höheres Wissen darüber, was gut und heilsam für mich ist und welche Menschen, Orte, Behandlungsmaßnahmen von meiner Seele begrüßt werden. Dieses Wissen ist, so behaupte ich, in jedem Menschen vorhanden.

 

Mein „Spür-Wissen“ weiß mehr als ich

Dieses Wissen ist ein aus dem Körper Kommendes, es ist ein Spür-Wissen. Es ist der „Felt Sense“, dieser im Körper gefühlte Bedeutungsgehalt, der immer abrufbar ist. Man kann es auch Körperintelligenz nennen oder organismische Weisheit, zelluläres Wissen, Lücke des Impliziten, Intuition oder gefühltes Wissen.

Es ist ein Wissen, das über das, was ich weiß, hinausreicht. Es ist neu, noch nie gedacht, überraschend und ganz gewiss. Es ist ein Wissen, dass alle Umstände, alle Fakten, alle relevanten Bezüge einschließt. Es schließt die vergangenen Erfahrungen ebenso ein, wie auch die weiterführenden Schritte, die mein Leben auf „richtige“ Weise fortsetzen.

Wie Gendlin sagt: „Der Felt Sense hat in sich implizit eine ganze Menge Verbindungen“ (in Wiltschko 2008, S. 88). Carl Rogers (1959/1987) nennt dies „organismische Bewertung“ – im Gegensatz zur Bewertung, die aufgrund von Konzepten und äußeren Bewertungskriterien erfolgt.

Mein Organismus weiß, und er weiß mehr als Ich.

 

Innehalten, um sich zu spüren

Damit sich dieses Wissen entfalten kann, braucht es zuallererst Zeit-Räume – „Frei-Raum“ wird das im Focusing genannt. Ein Verweilen mit dem, was jetzt ist. Und das ist ja auch ganz natürlich. Wenn wir uns verirren, wenn unsere Landkarte des Lebens nicht mehr gilt, wie das bei einer Krebsdiagnose der Fall ist, halten wir zunächst an, wir halten inne, wir folgen sodann unserer Intuition.

Es gilt also, den Menschen einzuladen innezuhalten, mit sich in Fühlung zu kommen, sich in seiner inneren Antwort auf die Komplexität der Situation wahrzunehmen. Diese Antwort wird sich vielleicht nicht sofort einstellen, und dann ist sie da, diese Lücke des vermeintlichen Unwissens.

„Wenn man eine ganz komplizierte Situation hat, die noch nie jemand ganz genau so gehabt hat, und daher das, was in der Blaupause vorgesehen ist, nicht mehr passt – es geht nicht mehr, so wie gewohnt weiterzuleben, und das, was geht, weiß man noch nicht; der Atem ist angehalten und dann impliziert der Körper einen nächsten Schritt. Der ist so wie Ausatmen. Und doch ist er ganz neu“ (Gendlin in Wiltschko 2008, S. 119).

Wir sind nicht gewohnt, unser Inneres, unseren Körper zu befragen. Wir versuchen viel eher, über Gedanken und innere Dialoge herauszufinden, was richtig ist zu tun.

 

Verweilen im Un-ge-wissen

Verweilen im Ungewissen braucht Vertrauen, Vertrauen eben in jenes dahinterliegende Wissen. Gendlin sagt einen schönen Satz: „Es ist immer jemand drinnen“ (in Wiltschko 2008, S. 136).

Da ist immer jemand drinnen hinter dem Krebs, im Krebs, um den Krebs herum. Und diese Person, dieser Mensch, den gilt es aufzusuchen, dieses Ich, das den Krebs hat. Oft scheint es so, als ob nur der Krebs da wäre oder nur die Gefühle zu der Diagnose.

Krebs jedoch war zumindest für mich eine wunderbare Möglichkeit zu erfahren, dass ich mehr bin als meine Geschichte, meine Rollen, meine Definitionen, meine Beziehungen, mein Beruf, mein Determiniert­sein, und selbst mehr als meine Erkrankung. Dahinter, darüber hinaus, darunter bin ich, wer ich wesenhaft bin.

 

Was braucht das von uns Betreuern/­Therapeuten/Ärzten?

Zuallererst die Bereitschaft, mit sich in Fühlung zu kommen, ebenso innezuhalten, mir meiner Gefühle, meiner Gedanken, meiner Konzepte zu dieser Diagnose dieses Menschen bewusst zu sein. Das ist nicht analytisch zu erfassen, sondern nur im Wahrnehmen des Felt Sense, dieses körperlichen Gespürs über das Ganze, über die ganze Situation zu erfahren.

Es braucht sodann eine Bereitschaft, sich dem Kontakt jetzt zu öffnen, in Verbindung mit diesem betroffenen Menschen zu treten und mich von ihm anstimmen zu lassen, jetzt, im Bewusstsein, dass es nicht meine Gefühle sind, sondern die des Patienten, welche ich über meine „organismische Resonanz“, wie Wiltschko (1992) es nennt, über diese tiefe körperliche Empathie in mir wahrnehme. Wilhelm Reich (1948/1989) nannte das „vegetative Identifikation“.

Dann ist es möglich zu spüren, ob der Patient die Behandlungsmethode ablehnt, weil er aufgrund von Mitteilungen oder Vorurteilen Angst vor ihr hat, oder weil dieses tiefe Etwas in ihm weiß, dass sie ihm nicht zum Heil gereicht. Dies gilt es auszuhalten – auch im Wissen, dass das Ja des Patienten zur Therapie ein heilsamer Faktor ist (Teichmann-Wirth, 2002).

Angereichert durch die fachlichen Informationen kann sodann ein Kreuzen stattfinden zwischen dem Felt Sense und den relevanten Fakten. Und auf dieser ganzheitlichen Basis kann dann das Verhalten „implizit gesteuert“ sein[2].

 

Der nächste kleine Schritt

Eigentlich ist alles ganz einfach. Es fängt ganz basal und damit banal anmutend an. Es ist wie mit dem Sitzen auf diesen Sesseln hier im Raum. Da gibt es einen Sessel, der mich mit seinen Lehnen begrenzt, und es gibt eine Freiheit, eben in dieser Begrenzung die jetzt stimmigste Haltung einzunehmen. Jene Haltung, die ein gesamtorganismisches Ausatmen auslöst: Ja, genau so ist es richtig. Das ist die Freiheit in der Determiniertheit.

Gendlin sagt, der Körper impliziert den nächsten Schritt. Dieser nächste Schritt trägt den Lebens-Prozess weiter; das ist ganz selbstverständlich, weil das Leben das so will oder, um mit Gendlin zu sprechen: „Das Ziel ändert sich, aber dass man leben will, ändert sich nicht. Es will leben, von Anfang an“ (in Wiltschko 2008, S. 120).

Krebskranke Menschen sind oft mit einer Vielzahl von Ratschlägen konfrontiert und auch mit der angstgetönten Überzeugung, dass sie ihr Leben zu ändern haben und zwar radikal und sofort. Das ist oft nicht zu machen.

Aber was ich tun kann, ist, zunächst dieses Nicht-mehr-weiter-Wissen, diese Lücke zu würdigen, sie da sein zu lassen und mich dann zu fragen, was ein guter nächster, vielleicht kleiner Schritt wäre.

Mit jedem kleinsten angemessenen, guten Schritt bekräftigen wir unsere Lebenskompetenz und fördern eine lebensbejahende Qualität. Um mit Le Shan (1989) zu sprechen: All diese Schritte sind wie Noten unserer Lebensmelodie, einer Melodie, die wir so vielleicht noch nie vernommen haben und in der immer wieder neue Harmonien, Obertöne und Bassstimmen hinzukommen, die aber immer unsere ureigenste Melodie ist.

In all der Endlichkeit, die uns im Leben mit Krebs so bewusst wird, eröffnet der gute Schritt, das „stimmige Jetzt“ ein zeitloses Fenster, in welchem die zeitliche Grenze unbedeutend wird.

Es ist eine große Herausforderung für den (psychotherapeutischen) Begleiter, immer wieder für die Bedingungen zu sorgen, die ermöglichen, dass die nächste Gedichtzeile im Leben des von Krebs betroffenen Menschen geschrieben werden kann. Dies erfordert eine Würdigung des Stockens, eine Würdigung des Steckenbleibens und des Noch-nicht-Wissens. Es erfordert Vertrauen. Vertrauen in dem von meinem Lehrer Michael Smith ausgedrückten Sinn, der einmal zu mir sagte: „Life is bigger than you.“ Letztlich geht es um ein tief verankertes Wissen, dass das Leben nicht mit dem Tod des Körpers endet, sondern sich immer weiter über den physischen Tod hinaus fortsetzt, sich weiter-lebt.

 

Literatur

Le Shan, L. (1989). Diagnose Krebs. Wendepunkt und Neubeginn. Stuttgart: Klett-Cotta

Reich, W. (1948/1989). Charakteranalyse. Köln. Kiepenheuer&Witsch

Rogers, C.R. (1959/1987). Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen der des klientenzentrierten Ansatzes. Köln. GwG

Teichmann-Wirth, B. (2006). Von der Seele begrüßt. Das Ja zur Therapie als heilender Faktor. Bundesministerium für Gesundheit und Frauen (Hrsg.), Mitteilungen der Sanitätsverwaltung, 107, 11, 9-13

Teichmann-Wirth, B. (2008 ). (M)eine Krebserkrankung. Eine personzentrierte Wegbeschreibung. In M. Tuczai, G. Stumm, D. Kimbacher & N. Nemeskeri (Hrsg.). Offenheit und Vielfalt. Wien: Krammer

Wiltschko, J. (1992). Von der Sprache zum Körper. Focusing Bibliothek. Bd 2. Würzburg: DAF

Wiltschko, J. (Hrsg.) (2008). Focusing und Philosophie. Eugene T. Gendlin über die Praxis körperbezogenen Philosophierens. Wien: Facultas

 

 

 

 

 

[1] Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Psychoonkologie (ÖGPO) vom 3.-6.9. 2008 in Baden bei Wien

[2] „Kreuzen“ und „implizit gesteuert“ sind zwei Termini in Gendlins körperbezogener Philosophie (siehe Wiltschko 2008, S. 102ff)

Mein Krebs ist kein böser….

Bösartig nennt man gemeinhin die Krankheit Krebs.

Bösartig, schädlich und zerstörerisch. Er gilt als der Feind im Inneren, von dem eine existentielle Bedrohung ausgeht. (Siehe dazu auch das wunderbare Buch von Susan Sontag „Krankheit als Metapher).

Überhaupt wird so getan, als gäbe es diesen einen Krebs, dessen Gesetzmäßigkeiten über alle individuellen Bedingungen hinweg sich unweigerlich in immer der gleichen, letztlich todbringenden Art vollziehen.

Dem steht gegenüber, dass Krebs nicht eine Krankheit ist, und die Erfahrung zeigt, dass es selbst bei ein und demselben Krebs und ein und derselben Behandlung und ein und derselben Prognose, verschiedene Ausgänge gibt.

Diese Konnotation von Krebs hat weitreichende Folgen. Es ist der bewusstseinsmäßige Boden, auf den eine Krebs-Diagnose fällt, ein Boden, der irrational, undifferenziert einen unheilvollen Weg vorzeichnet, wo das Schicksal von vornherein besiegelt scheint. Die natürliche Reaktion ist verständlicherweise eine Abwehr, eine Wegbewegung, ein Wegsehen, ein Weghaben wollen –  so schnell wie möglich.

Nein, bösartig ist er nicht, mein Krebs. Schon im Ultraschall schaut er nicht aggressiv aus. Ja, da sind einige graue Schleier, wo es, wenn es eine harmlose Zyste wäre, ganz schwarz sein müsste. Das ist eine Andeutung, ein An-Zeichen.

Er, mein Krebs, lädt mich ein, hinzuschauen auf das, was nicht in Ordnung ist, was eine Eigendynamik entwickelt hat, etwas, was sich aus dem Ganzen herausgelöst hat.

Nein, (noch) wuchert er nicht, nein, noch überschreitet er nicht Grenzen und dringt  ins umliegende Gewebe. Er ist in situ – „unmittelbar am Ort“.

Still zeichnet er, wie man diesen Prozess nennt:  „Schau hin“, sagt er mir, „was aus der Ordnung gefallen ist, was in Deinem Leben wuchert, wo Du das ordnende Zentrum verloren hast, wo Du die Verbindung zur inneren (spirituellen) Heimat verloren hast, die Wurzeln, das Stillsein, wo zu viel Aufruhr, Veräußerung, Ent-Fremdung, Peripherie und Ent-Eignung stattfindet.

„Hej, da gibt es einen Prozess“, sagt er mir, „um den solltest Du Dich kümmern.“ Und das ist eigentlich ganz einfach – nichts Großes, in der Zukunft liegendes.

Step by Step: Informationen einholen, die wissende Lücke offen lassen, mit Allem sein, was stattfindet, mit den Emotionen, den Up and Downs, den Gewissheiten und Unsicherheiten, all die Therapieoptionen bewegen, sie vor-kosten, gleich-gültig da sein lassen, sich von Drängern entfernen, zu mir kommen, mich in meiner Antwort auf diese Situation wahrnehmen, auch die vielen Konzepte, dass ich eine bestimmte Maßnahme auf keinen Fall ergreifen darf, oder eine andere auf jeden Fall machen muss.

Dann der organismischen Wahl Gehör schenken, diesem Ja meiner Seele, wo sich mein Inneres weitet und ein Interesse an der Erfahrung, die ich mit dieser Therapiewahl machen werde, spürbar ist.

Und dann die Erfahrung machen, sie sodann verdauen und integrieren, mir Zeit und Raum nehmen, ungestört, so lange, wie es braucht.

Und dann freudig den nächsten Lebens-Schritt tun, welcher er immer ist.

So gibt uns das Leben die Richtung vor.

Und der Krebs, mein Freund, ist dabei eine Wegmarke.

 

P.S. Zur wissenden Lücke siehe meinen Artikel (2010). Die wissende Lücke. Zur Weisheit des Organismus im Leben mit Krebs. In FocusingJournal Nr. 24, S. 20-23).

 

 

Die Hochschaubahn

Endlich eine Entscheidung – ja, so mach´  ich das – keine aufwendigen Operationen mit zweifelhaftem Ausgang, eine Ablatio (Totaloperation) auf der linken Seite – ein klarer Schnitt, dann ist es, was es ist.

Dass eine Entscheidung gefallen ist, und dass sich diese richtig anfühlt, versetzt mich augenblicklich in eine Hochstimmung, das ist befreiend.

Doch schon bald schleicht sich erneut ein Zweifel ein – vielleicht ist das ja bei meinem Krebs gar nicht notwendig, vielleicht könnte ich noch zuwarten, den Selbstheilungskräften vertrauen, vielleicht müsste ich das sogar, bei allem, wovon ich überzeugt bin?

Auch was ich mit der anderen Brust tun soll, die ja ebenfalls Anzeichen eines neuerlichen Krebsgeschehens zeigt, lässt die Hochschaubahn sogleich steil abwärts fahren. Enge,  Betrübnis und Angst breiten sich in mir aus.

So sitze ich zur Zeit auf der Hochschaubahn:

Ein ermutigendes, bestätigendes Gespräch mit einer Freundin oder eine tolle, anspruchsvolle Radiosendung – up, das Ausbleiben eines Rückrufs meines Chirurgen  – down.

Der Gedanke, dass die Brustlosigkeit meinen Forschergeist weckt, und dies ein Anlass sein kann, mich mit der Mythologie der Amazonen oder mit der Geschichte von St. Agatha und der grundsätzlichen Bedeutung unserer Brust für uns Frauen zu befassen, ist,  beflügelt mich – up.

Der Gedanke, was ich jetzt endlich ändern sollte, und ob ich wohl mutig genug bin, das zu schaffen(!?) – schon geht die Stimmung in den Keller – down.

So kann jeder Gedanke, jedes Erlebnis Anlass für ein Hoch oder Tief sein, mein ganzes System ist davon betroffen, eine Kaskade von Gefühlen, Körperempfindungen und Stimmungen werden sogleich ausgelöst.

Wie schön, dass ich zu Silvester im Tarot die Karte der 2 Stäbe gezogen habe – Dominion. Da geht es um die Zentriertheit, das Versammeltsein, um den Träger, die feste Verankerung in mir selbst, die all diese Bewegungen betrachtet, von einer sicheren erdnahen Position.

Oder um es noch viel besser mit Rilke auszudrücken:

Da schwang die Schaukel durch den Schmerz -, doch siehe, 
der Schatten war´s des Baums, an dem sie hängt.

Ob ich nun vorwärtsschwinge oder fliehe,
vom Schwunge in den Gegenschwung gedrängt,
das alles ist noch nicht einmal der Baum.
Mag ich nun steiler schwingen oder schräger,
ich fühle nur die Schaukel; meinen Träger
gewahr ich kaum.

So lass uns herrlich einen Baum vermuten,
der sich aus Riesenwurzeln aufwärtsstammt,
durch den unendlich Wind und Vögel fluten
und unter dem, in reinen Hirtenamt,
die Hirten sannen und die Herden ruhten.

Und dass durch ihn die starken Sterne blitzen, 
macht ihn zur Maske einer ganzen Nacht.
Wer reicht aus ihm bis zu den Göttersitzen, 

da uns sein Wesen schon nachdenklich macht?

UP!