Die Krankheit hinter der Krankheit
„Den Tumor hat man mir (ab)nehmen können, das Leben habe ich zu führen. Das ist die Herausforderung.“ Diesen Satz habe ich einmal für einen Buchbeitrag mit dem Titel „Krebs sei Dank“ geschrieben.
Für mich war und ist das Leben das Schwierige, nicht so sehr der Krebs- Die Konfrontation mit einer Krebsdiagnose – so erschreckend diese auch für mich war – war eine fokussierte Geschichte mit einer Richtung, was zu tun ist – Infos recherchieren, Entscheidungen treffen, Behandlungen durchführen.
Da gibt es auch Fürsorge, Unterstützung durch andere und ganz konkret bekomme ich viel an Bemühen, an Aufmerksamkeit, ich habe ein Recht auf Selbstzentrierung. Andererseits fühle ich mich – wenn ich nichts offenkundig Bedrohliches, keinen Krebs habe – wie viele andere Menschen auch – oftmals allein.
Allein mit all den alltäglichen Unannehmlichkeiten, mit dem, was quälend in mir ist, allein mit dem, was unbewältigbar erscheint, und das kann schon die Einführung der Registrierkasse sein, ein Konflikt mit einem nahestehenden Menschen, die Angst, den Anforderungen des Lebens nicht gerecht werden zu können. Damit sind wir verschweigen, weil derartige Ängste nicht gesellschaftsfähig sind.
Dort fängt die Krankheit Krebs an – im Alleinsein, im Schweigen, im täglichen einsamen Ringen mit all dem, was mich bewegt. Oft steht am Anfang einer Krebserkrankung eine Überforderung, eine lange Zeit des Alleinkämpfertums, des Bemühens selbst mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Mit all dem, was zu viel ist – zu viel Druck, zu viel Schmerz, zu viel Not, zu viel Angst…..
Und dann kommt die Diagnose und damit das Entpflichtetsein, und ein Raum entsteht in dem ich (ich) sein darf – Krebs gibt Erlaubnis.
Es ist allgemein verständlich, dass ich Angst habe, dass ich mich überfordert führe, dass ich Hilfe brauche. Dann – endlich werde ich wahr- und ernst genommen. Viele an Krebs erkrankte Menschen können nach der Diagnose und vor allem nach den Behandlungen, – wenn sie es sich leisten und gestatten können, sich für die Genesung Zeit zu nehmen – erstmalig erfahren, wie sich die Essenz des Lebens anfühlt – einfach kochen, im Garten arbeiten, in entspannter Weise und nicht unter Druck dem Sohn bei der Hausaufgabe helfen. Und sie erfahren, wie sukzessive kritische innere Stimmen laut werden – „Jetzt sollte ich bald einmal wieder mit einer richtigen Arbeit anfangen.“ Viele Menschen können sich nur Achtung und Wertschätzung entgegenbringe, wenn sie viel leisten, über ihre Grenzen gehe, total im Stress sind. Dann fühlen wir uns als ein wertvolles Mitglied in der Gesellschaft. – das ist der soziale Krebs.
Ist das nicht absurd – dass ich schwer erkranken muss, um das Leben wahrnehmen und leben zu dürfen. An dieser Stelle ist auch der Förderwahn, der bereits an Kindergartenkindern angewandt wird, sehr kritisch zu sehen. Von früh an keine Freiräume mehr zu haben, Zielsetzungen erfüllen zu müssen, eingeteilt zu sein, nicht den Rhythmen des Lebens folgen zu können, nur mehr von einem Termin zum anderen hetzen zu müssen.
Das ist meiner Ansicht nach die wahre Krankheit Krebs – die kollektive Entfremdung von unseren basalen Bedürfnissen nach Ruhe, Muße, Ausdruck, Bewegung und Innehalten. Und die Entfremdung von unserem innersten Wesen, unserem Angelegtsein. Dort gilt es anzusetzen. Dort gilt es Gegenentwürfe in die Welt zu bringen, Ermutigung und Engagement.
Die Gesundheit hinter der Symptombeseitigung.
So wie am Anfang der Krebserkrankung die Trennung, die Entfremdung und Enteignung steht, so ist es die Wiederaneignung von mir selbst, indem ich meine Gefühle, Bedürfnisse, Nöte und Ängste aber auch mein Wesen wieder wahrnehme, die am Weg der Genesung stattfinden sollte. In dem ich wieder in Kontakt trete mit mir und allen Bezügen, die mich ausmachen. Das braucht eine Offenheit, eine Stille und eine Entschleunigung. Dann kann Resonanz stattfinden. In einer kürzlich gesendeten Radiokollegsendung zum Thema Resonanz wird betont, wie wichtig es ist, dass Kinder die Welt als tragend, wohlwollend, atmend und gütig erleben. Im Gegensatz dazu wird das Kind oftmals zum „Objekt der erzieherischen Bemühung, ein Objekt, das an Erwartungen, Bewertungen und Zielen gemessen wird“ – so der Neurowissenschaftler Gerald Hüther in der Radiokollegsendung vom 21.3. 2016. Wichtig wäre, – nicht nur für das Kind sondern auch für uns – sich mit dem Kind einzulassen, sich in seine Welt mitnehmen zu lassen, staunend sich zu öffnen für all die bewegenden Äußerungsformen, die es zeigt. Dann kann Ausdehnung stattfinden und Wachstum.
Für uns Erwachsene braucht es, um diesem oben beschriebenen essentiellen Alleinsein entgegen zu wirken, eine Gemeinschaft, die die Kultur des einander Wahrnehmens pflegt – Wahlverwandtschaften, wo wirkliche An-er-kennung stattfindet.
Es braucht weiters:
Ein Bemühen, einander nicht bloß als Objekte in unserer Funktionalität wahr zu nehmen, sondern miteinander in Resonanz zu gehen. Räume zu schaffen, wo einfach Austausch stattfindet, wie es mir geht, worunter ich leide, wovor ich mich fürchte, worüber ich mich freue. Einander nicht bloß mit der Brille von Bewertungen wahr zu nehmen, gemessen an Erwartungen und Zielen.
Um meinem Wesen gemäß zu sein, braucht es Menschen, die nach mir fragen, die sich für mich interessieren, für mich als Subjekt, als Individualität, in meiner Einzigartigkeit.
Es braucht Augen, die mich sehen und Ohren, die mich hören, die mich aus mir selbst heraus hören, mich heraus kennen, sodass ich vor – kommen kann.